Wer Land mit Seeanstoss besitzt,
muss sich mit Uferwegen arrangieren
Es ist von einer Idylle zu berichten, von den Berner Seeufer- und Flusswegen. Einer führt direkt vor meinem Haus am kleinen Wohlensee vorbei, auf meinem eigenen Grundstück. Eine Idylle gegenüber den Zürchern, die toben, streiten und sich erst vor Bundesgericht wieder sehen.
Wir wollen nicht über die träge Natur der Berner und die eher preussischen Regungen der Zürcher philosophieren, sondern über das sehr unterschiedliche Rechtskleid, in welches die Uferwege gekleidet werden - in Zürich überrollt der Staatsvogt die Eigentümer meistens mit Enteignungen für die Wege, in Bern schreibt der Kanton seit nunmehr dreissig Jahren einfach ein Wegrecht für Fussgänger ins Grundbuch. Mein Grundstück wurde nie amputiert, der Weg wird von der Gemeinde gepflegt, aber sparsam, ohne Mauern und Aufrüstungen. Am unmittelbaren Seeufer bin ich wieder alleine dran, kann das kleine Boot antäuen, Schilf und Sträucher setzen. Und das Publikum übrigens ist von einer erstaunlichen Selbstdisziplin. In zehn Jahren habe ich vier Plasticflaschen aufgelesen, sonst nichts. Spaziergänger, Kinderchen, Jogger, Hundefreunde zirkulieren mit grossem Gusto.
Die Leser meines Standpunkts reiben sich vielleicht die Augen - hier schreibt doch einer als Altliberaler, aber warum werden ihm die Augen feucht zugunsten öffentlicher Uferwege, dazu noch auf seinem eigenen Land? Da kommt der Ökonom zum Zuge: Landeigentum, besonders an exponierten, begehrten Lagen wie Hügelkuppen oder Seen, ist exklusiv. Das rühmen ja auch die Immobilieninserate, aber exklusiv gilt im Wortsinne: Der Landbesitz an besonderen, begehrten Lagen schliesst alle anderen aus. Er hat negative Externalitäten so wie andere Handlungen in der Umwelt zulasten anderer, die nicht voll entschädigt werden. Hat jemand kiloweise Gold im Keller oder einen Wust ABB-Aktien im Depot, berührt das die Rechte anderer nicht, auch zu solchen Werten zu kommen. Hingegen hält das Grundbuch alle andern vom Land ab, Land ist nicht replizierbar wie anderes Eigentum, es ist singulär.
Doch gerade weil Land als ausschliessender Besitz sich an den Rechten anderer reibt, sind auch ohne Uferwege schon viele Beschränkungen zugunsten der Öffentlichkeit üblich und verbreitet. Ebenfalls im Grundbuch sind oft Wegrechte, Wasserrechte zugunsten anderer Privater von nebenan eingetragen oder Wasser-, Strom-, Kabelleitungen. Der Luftraum oben kann überflogen werden. Würden allerdings die Drohnen überhand nehmen, griffe ich zur Schrotflinte oder zu einer Kampfdrohne dagegen. Denn das war so nicht abgemacht . . .
Mit grossem Genuss, aber ziemlich gedankenlos wandern wir übrigens über die riesigen Land- und Waldflächen der Bauern und über weite Alpen. Obwohl ihr Eigentum, müssen sie diese offen halten. Das verlangt seit gut hundert Jahren der Artikel 699 des Zivilgesetzbuches in seinen üblichen, klaren Worten: «Das Betreten von Wald und Weide und die Aneignung wildwachsender Beeren, Pilze und dergleichen sind in ortsüblichem Umfange jedermann gestattet.» Diese Idee offenen Landes geht auf die alemannische Rechtsauffassung zurück. Auch Deutschland und Österreich öffnen die Wälder Wanderern, aber eher eingeschränkt auf die Erholung. Sie verbieten das Radfahren oder Reiten. Hingegen können private Eigentümer von Wald und Feld in Frankreich, England, in den USA ihre Flächen einzäunen, ummauern. Neuere Gesetze schränken dieses Recht in manchen dieser Länder indes etwas ein.
Hohe Wellen wirft in Italien der Zugang zu den 8000 km Meeresufer. Grundsätzlich gehört der ganze Strand der Öffentlichkeit, aber der Staat vergibt Konzessionen an private Betreiber der unendlichen Liegestuhlreihen mit ihren Restaurants und Bars. Sie sperren diese Ufer ab, müssen aber ganz vorne, wo die Wellen sich brechen, jedermann durchgehen und baden lassen.
Das ganze Meer überhaupt allen offen halten, das wollte im 17. Jahrhundert der niederländische Jurist Hugo Grotius. Die Engländer setzten seiner Forderung «Mare liberum» die Schrift ihres Juristen John Selden entgegen: «Mare clausum». Der Grundsatz offener Meere setzte sich aber im Völkerrecht durch, mit Ausnahme eines Streifens des Meeres und Meeresbodens entlang der Küsten.
Zurück zu den Lösungen der Berner und der Zürcher für unsere kleinen Gewässer. Hier wie am Meer werden enorme Interessen, ökonomische Werte durch ein paar dürre Paragrafen verteilt. Eine freiheitliche Sicht muss indes scharf darauf dringen, dass das öffentliche Interesse eng definiert wird, sonst zählt Eigentum nichts. So sollen Seeuferwege auch mal eine Liegenschaft hinten umgehen, wenn sonst ihr ganzer Charakter und Wert zerstört würde. Kein Beton am See, keine Betonköpfe beim Uferrecht.
NZZ am Sonntag, 13. Dez. 2015, Mein Standpunkt von Beat Kappeler