Zersiedelung ausserhalb Bauzonen
Neue Zürcher Zeitung vom 07.04.2016, Gastkommentar von Alain Griffel
Die Schweizerinnen und Schweizer wollen die Zersiedelung eindämmen. Das haben sie mehrfach zum Ausdruck gebracht: 2012 mit der Annahme der Zweitwohnungsinitiative und der Zürcher Kulturlandinitiative, 2013 mit der Zustimmung zur Verschärfung des Raumplanungsgesetzes (RPG). Gleichwohl schafft das Bundesparlament ständig neue Bau- und Nutzungsmöglichkeiten ausserhalb der Bauzonen, und dies in immer kürzeren Abständen. Jüngst überwies der Ständerat eine Motion, um die Vorschriften für Hotelbetriebe zu lockern.
Die 2013 angenommene RPG-Revision, die von den Kantonen derzeit umgesetzt wird, betraf nur die Bauzonen, nicht auch das Nichtbaugebiet. Die Zersiedelung findet aber nicht nur innerhalb, sondern auch ausserhalb der Bauzonen statt, wo nicht weniger als 30 Prozent aller Gebäude bzw. 10 Prozent aller Wohnhäuser stehen. Dabei ist der Wille des Verfassungsgebers seit 1969, d. h. seit der Aufnahme des Raumplanungsartikels in die Bundesverfassung, klar: Das Baugebiet soll vom Nichtbaugebiet getrennt und die Siedlungstätigkeit in kompakten Bauzonen konzentriert werden. Das RPG von 1979 respektierte diese Vorgaben, indem es ausserhalb der Bauzonen nur landwirtschaftliche Bauten als zonenkonform erklärte und Ausnahmebewilligungen – innert enger Grenzen – nur für standortgebundene andere Bauten zuliess.
1998 öffnete der Gesetzgeber jedoch die Schleusen: Um den Strukturwandel in der Landwirtschaft abzufedern, liess er im Nichtbaugebiet Hors-sol-Gewächshäuser und Intensivlandwirtschaftszonen zu, die wie Gewerbezonen aussehen. Darüber hinaus schuf er eine Reihe neuer Ausnahmetatbestände, so für nichtlandwirtschaftliche Nebenbetriebe sowie für die Umnutzung von landwirtschaftlichen Wohnbauten und von Schutzobjekten. 2007 folgte eine nächste grössere Gesetzesrevision mit neuen Ausnahmen für den Agrotourismus («Ferien auf dem Bauernhof»). Biogasanlagen wurden in der Landwirtschaftszone unter bestimmten Voraussetzungen zonenkonform.
Dann ging es Schlag auf Schlag. 2011 erweiterte das Parlament die – zuvor schon gelockerte – Besitzstandsgarantie, die unter früherem Recht erstellte, inzwischen rechtswidrig gewordene Gebäude in ihrem Bestand schützt. Mit fatalen Folgen für das Landschaftsbild: Jeder Landwirt kann sein Wohnhaus seither dem Meistbietenden verkaufen; dieser darf es abreissen und muss es nur typähnlich wieder aufbauen.
Wo zuvor regionaltypische Bauernhäuser standen, entstehen neu beliebige Einfamilienhäuser und Villen. 2013 hatte das Parlament ein Herz für Tiere: Es erweiterte die Zonenkonformität der Pferdehaltung in der Landwirtschaftszone und erleichterte die (erst seit 2007 zulässige) hobbymässige Tierhaltung. 2015 wurde im Ständerat eine Motion eingereicht, gemäss welcher die hobbymässige Kleintierhaltung in der Landwirtschaftszone neu sogar zonenkonform werden soll. Und am 9. März 2016 überwies der Ständerat nun eine Motion, welche – wiederum in Ausweitung der Besitzstandsgarantie – die Zweckänderung und die Erweiterung von Hotels ausserhalb der Bauzonen erleichtern soll.
Die bereits bestehenden, sehr weit gehenden Möglichkeiten, solche Hotels umzubauen, ihren Zweck teilweise zu ändern, sie bis 30 Prozent zu vergrössern oder sogar abzubrechen und wieder aufzubauen (einschliesslich Vergrösserung), genügen offenbar nicht mehr.
Hinzu kommt Folgendes: Das Parlament hat, was das Bauen ausserhalb der Bauzonen betrifft, seit 1998 ein veritables Regelungschaos geschaffen. Niemand vermag dieses mehr zu durchschauen, nicht einmal Spezialisten, geschweige denn die Behörden in 26 Kantonen, welche diese Regelungen anwenden müssen.
Auch der Gesetzgeber selber scheint inzwischen den Überblick verloren zu haben. So beauftragte er in der 2013 neugeschaffenen Bestimmung zur hobbymässigen Tierhaltung den Bundesrat, auf Verordnungsstufe zu klären, «in welchem Verhältnis die Änderungsmöglichkeiten nach diesem Artikel zu denjenigen [der beiden vorangehenden Artikel] stehen». Damit gab der Gesetzgeber im Klartext zu, dass er selber nicht mehr drauskommt.
Niemand hat etwas dagegen, der krisengeschüttelten Tourismusbranche unter die Arme zu greifen. Niemand hat etwas gegen Pferde oder gegen hobbymässig gehaltene Tiere, gegen Biogasanlagen oder gegen das Schlafen im Stroh. Aber die Gesamtsumme dieser konzeptlos und zufällig aneinandergereihten Gesetzesrevisionen führt zu einer massiven Beeinträchtigung der Landschaft, also genau zu dem, was die Verfassung seit bald fünfzig Jahren verhindern will.
Ging es zunächst noch um den Strukturwandel in der Landwirtschaft, soll das Nichtbaugebiet inzwischen für alle möglichen Einzelbedürfnisse herhalten, neustens nun auch für die Förderung des Tourismus. Dass das Parlament aus eigener Kraft wieder aus der raumplanerischen Sackgasse herausfinden wird, in die es sich seit 1998 hineinmanövriert hat, ist leider nicht anzunehmen. Aber es sollte wenigstens nicht noch weiter hineinrennen.
Alain Griffel ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich.